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Kommissar Holbein macht Fingerübungen
von Manfred Rüster
Kommissar Bennet Holbein macht Bekanntschaft mit einer Verehrerin.

Bennet Holbein hatte in seinem Leben unzählige Kriminalfälle gelöst – von Mord über Erpressung und Kindsentführung bis zu lässlichen Diebstählen. Jetzt hatten sie ihn, Kriminalhauptkommissar im Kommissariat K1 der Polizeidirektion Augsburg, in Pension geschickt. Noch drei Tage Dienst und sechs Wochen Resturlaub, dann war er seinen Titel los. Den Titel – aber nicht die Leidenschaft für Kriminalfälle ...

Auf dem morgendlichen Weg in die Direktion überquerte er den Elias-Holl-Platz, stieg den Eisenberg hinauf und trat auf den Rathausplatz hinaus. Ein kalter Wind stach ins Gesicht. Passanten in dicken Jacken und bis zur Nase hochgezogenen Schals hetzten vorbei. Ein gelb gekleideter Arbeiter fegte Papier, Plastikbecher und Fetzen von Aluminiumfolie zu einem Haufen zusammen. Tauben pickten nach Fressbarem. Über den Platz verteilt dösten Amüsierbuden, die für den Faschingsbetrieb am Wochenende aufgestellt worden waren, in die Morgendämmerung hinein. Es roch nach Schnee.

Bennet Holbein stellte sich an die Straßenbahnhaltestelle und blickte in Richtung Dom. Frierend zog er die Schultern hoch und trat er von einem Fuß auf den anderen. Vom Schmiedberg kommend bog die Linie Eins in den Hohen Weg ein. Wie ein müdes Reptil kam sie zum Rathausplatz heran gekrochen. Holbein stieg ein und ließ sich zur Polizeidirektion in der Gögginger Straße hinaus schaukeln. Währenddessen blätterte er gedankenverloren im Büchlein ‚Französischer Wortschatz für Fortgeschrittene‘. – Mit heute gerechnet noch vier Tage! Dann würde er den letzten Urlaub seines Berufslebens in Südfrankreich verbringen und in das französische Leben eintauchen, weit weg von Büro- und Aktenstaub, nervtötenden Vorschriften, knurrigen Kollegen und karrieregetriebenen Vorgesetzten.

Würde er die Abstinenz von seinem Beruf durchstehen ...?

Kurz vor zehn Uhr betrat Bennet Holbein sein Büro und schnupperte. Der Duft frisch gebrühten Kaffees füllte den Raum. Er kam aus dem Zimmer von Kriminalkommissar Rudolf Pentekost, das neben seinem lag. Holbein hängte den Lodenmantel an den Kleiderständer, schlug die Baskenmütze einmal auf die flache Hand und steckte sie in die Manteltasche. Dann ging er nach nebenan. „’morgen Rolf! – Noch Kaffee da?“

„Frisch aufgebrüht“, sagte Pentekost nach kurzer Begrüßung. „Das Edelfräulein hat sich erbarmt.“

Edelfräulein war der Spitzname für Kriminalkommissarin Edeltraud Mattgall, einer Kollegin im Kommissariat. Nach außen hin tat sie, als ob sie den Namen hasste, aber Holbein wusste, wie sehr er ihre Seele streichelte.

Die Kaffeemaschine auf dem Aktenbock spuckte die letzten Wassertropfen zischend und blubbernd in die Filtertüte. Holbein füllte seine Tasse zur Hälfte mit dem duftenden Gebräu und nahm einen kleinen Schluck.

Pentekost fragte: „Wie fühlt man sich als angehender Pensionär am drittletzten Arbeitstag?“

Holbein hasste die Frage. Geistleerer Small-talk. Er knurrte und dachte: Beschissen!, fälschte die Antwort ab und sagte: „Die Gefühle fahren Achterbahn.“ Damit war alles gesagt. Er lenkte vom Thema ab und fragte: „Gibt’s Neuigkeiten?“

Er rechnete mit Pentekosts Kopfschütteln. Alle laufenden Arbeiten waren abgeschlossen oder an die Kollegen delegiert worden. Für ihn gab es nichts mehr zu tun.

Pentekost machte ein Zeichen zur Tür, die ins kleine Zimmer führte. „Eine Frau wartet auf dich. Modell dreißiger Jahre, letztes Jahrhundert. Es geht um einen Treppensturz. Mehr ist aus ihr nicht rauszukriegen. Sie will nur mit dir reden.“

Modell dreißiger Jahre –, Treppensturz ... Wieder so ein Fall wie neulich, als ein Rentner seinen rumänischen Nachbarn anzeigen wollte, weil er Katzen schlachtete und aufaß ...? – Holbein brummte Unverständliches und verließ Pentekosts Büro. Den Kaffee nahm er mit.


. . .

Holbein erfährt von einem mysteriösen Treppensturz.

Das kleine Zimmer wurde für Vernehmungen und kurze Besuche genutzt. Die Frau hatte es sich auf Holbeins Stuhl bequem gemacht und sah zum Fenster hinaus. Sie trug einen beigefarbenen, an den Ärmeln abgewetzten Wintermantel, Winterstiefel und einen Topfhut mit zwei kümmerlichen Federn. Die Handtasche auf ihrem Schoß hielt sie mit beiden Armen umklammert.

Holbein konnte es nicht leiden, wenn jemand seinen Platz in Beschlag legte. „Guten Morgen!“, dröhnte er. Die Frau fuhr hoch und sah Holbein erschrocken an.

Er zeigte auf den Besucherstuhl auf der anderen Seite des Tisches. „Setzen Sie sich bitte dorthin!“ .

Ohne ein Wort zu sagen erhob sich die Frau und tapste um den Schreibtisch herum. Sie setzte sich auf die Stuhlkante, dass Holbein fürchtete, sie würde bei einer unbedachten Bewegung hinunterrutschen.

Die Frau mochte zwischen siebzig und achtzig Jahre alt sein. Hinter den Falten und Altersflecken ihres Gesichts schimmerte etwas von ihrer früheren Schönheit. Um den Mund lag ein Ausdruck von Spott. Die Augen funkelten voller Neugier.

Holbein stellte die Kaffeetasse, die er aus Pentekosts Büro mitgenommen hatte, auf den Tisch und nahm Platz. Mit gemischten Gefühlen registrierte er die warme Sitzfläche. „Mit wem habe ich die Ehre?“, fragte er.

Die Frau hüstelte. „Anita Grees – heiße ich. Ich komme wegen ... Es ist wegen ... Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll! Es ist nämlich das erste Mal, dass ich bei der Polizei bin.“

Er lächelte sein einstudiertes Dienstlächeln. „Sagen Sie einfach, was Ihnen auf dem Herzen liegt. Reden Sie so, wie es Ihnen in den Sinn kommt.“

Frau Grees gab sich einen Ruck. „Es ist wegen der Frau Rott. Sie ist meine Nachbarin. Sie ist gestorben.“

Er machte ein bekümmertes Gesicht und sagte: „Das tut mir aber leid!“

Grees redete weiter: „Die Frau Rott ist im ersten Stock auf einen Hocker gestiegen, dann ist sie umgekippt und die Treppe runtergefallen. Dabei hat sie sich das Genick gebrochen.“

Wieder ein Fall, der sich zum Tratsch im Treppenhaus eignet, dachte der Kommissar. „Schlimm!“, sagte er und umfasste die warme Tasse.

Grees richtete sich auf und sagte mit fester Stimme: „Der Notarzt meint, es ist ein Haushaltsunfall. Das glaube ich aber nicht! Frau Rott kann nämlich auf keinen Hocker steigen! Weil ihre Knie und die Hüften kaputt sind. Sie kann ohne Schwierigkeiten nicht mal in die Straßenbahn oder in den Omnibus einsteigen. Bei den alten Modellen, wo an den Türen hohe Stufen sind, ist sie auf fremde Hilfe angewiesen. Wenn sie das nicht schafft, wie kann sie dann allein auf einen Hocker steigen?“ Triumphierend sah sie Holbein an.
. . .

Die Rede kommt auf Frau Ryndowa, Rotts Zugehfrau; Holbein erfährt auch den Namen von Rotts Großneffen

„Wer ist Frau Ryndowa?“

„Die Zugehfrau von Frau Rott. Sie kommt jeden Mittwoch zum Putzen. Heute früh auch, weil – heute ist ja Mittwoch.“

„War Frau Ryndowa anwesend, als der Unfall geschah?“

„Sie sagt, sie hat Frau Rott gefunden, als sie zur Arbeit kam. Frau Rott hat unten im Hausflur vor der Treppe gelegen und sich nicht gerührt.“

„Wenn niemand anwesend war – woher weiß man, wie der Unfall abgelaufen ist?“

Grees zuckte mit den Schultern. „Der Notarzt hat gesagt, wie der Unfall passiert ist. Wie er das festgestellt hat, weiß ich nicht. Das müssen Sie ihn selber fragen.“

„Haben Sie mit dem Notarzt gesprochen?“, fragte Holbein.

Sie schüttelte den Kopf. „Die Haustür stand die ganze Zeit offen. Ich bin hineingegangen und hab zugehört, was die Männer reden.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Ich glaube aber nicht, dass es ein Unfall war! Der Notarzt hat sich bestimmt geirrt. Warum sollte eine achtzig Jahre alte Frau – selbst wenn sie es könnte – an der letzten Treppenstufe auf einen Hocker steigen? Dazu hat sie doch keinen Grund! Bestimmt ist der Unfall ganz anders passiert.“

Holbein ging auf die Bemerkung der Frau nicht ein. Um abzulenken, fragte er: „Hat Frau Ryndowa einen Schlüssel zum Haus der Frau Rott?“

Grees rutschte auf dem Stuhl nach hinten. „Von mir hätte sie ihn nicht gekriegt –, wenn ich Frau Rott wäre! Weil ... Die Ryndowa war mit einem Russen verheiratet. Das sagt ja schon der Name. Von dem ist sie geschieden, aber ein bisschen bleibt doch immer hängen. Jetzt lebt sie mit einem Deutschen zusammen. In wilder Ehe! Das ist modern heutzutage. Wer so lebt, ist nicht zuverlässig. Das ist meine Meinung. Frau Rott hat das auch gesagt. Und wenn jemand nicht zuverlässig ist, gibt man ihm keinen Hausschlüssel. – Hab ich recht?“

Holbein hütete sich, ein Urteil abzugeben. „Warum hat Frau Rott ihr trotzdem einen gegeben?“

„Frau Rott hat Angst, ihr könnte mal was zustoßen, da muss man ins Haus gehen können. Die Ryndowa kommt aber nur einmal in der Woche. Ich wohne gleich nebenan. Ich hätte jeden Tag nach dem Rechten sehen können! Aber ich war nicht gut genug. Mein Mann war nämlich bloß Buchhalter, aber ihrer war Abteilungsleiter.“

Sie beugte sich vor. „Frau Rott fuhr manchmal nach München zu Freunden. Dann war sturmfreie Bude. Man kann sich vorstellen, was die Ryndowa dann im Haus gemacht hat!“ Sie stieß den Kopf mit einem Ruck nach vorn. „Rumschnüffeln!“ Sie lehnte sich wieder zurück. „Ich hätte nicht rumgeschnüffelt. Weil ich nicht neugierig bin. Außerdem – was gibt’s bei einer alten Frau schon zu finden.“

„Was hätte die Schnüffelei mit dem Treppensturz zu tun?“, fragte Holbein.

Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht musste die Ryndowa der Frau Rott heute beim Treppensteigen in den ersten Stock hinauf helfen? Vielleicht hat Frau Rott oben einen Beweis für die Schnüffelei gefunden und sie zur Rede gestellt? Ein Wort hätte das andere ergeben. Wenn die Zankerei direkt an der obersten Treppenstufe stattgefunden hätte ... Vielleicht hat die Ryndowa der Frau Rott dabei einen kleinen Schubs gegeben ...“

. . .

„Wissen Sie, ob Frau Rott Verwandtschaft hat?“

Grees rümpfte die Nase. „Einen Großneffen. Der heißt Marcel Fielgutt. – Marcel! Als ob es keine schönen deutschen Vornamen gibt! Alles muss heutzutage ausländisch sein! – Frau Rott hat den Namen selten benutzt. Wenn sie von ihm erzählt hat, hat sie ihn Taugenichts oder Faulpelz oder Rumtreiber genannt.“
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Kommissar Holbein besucht Frau Ryndowa und erfährt die ersten Einzelheiten über Marcel Fielgutt

„Hat Frau Rott Verwandtschaft?“, fragte der Kommissar.

„Marcel Fielgutt. Ein Großneffe. Von anderen Verwandten weiß ich nichts.“

„Wissen Sie, wie oft Marcel Fielgutt seine Großtante besuchte?“

„Zu ihrem Geburtstag und vor Weihnachten. Wie oft er zwischendrin kommt, weiß ich nicht. Sie sagte mal, er kommt immer, wenn er Geld braucht. Jedenfalls hatte sie danach schlechte Laune. Obwohl er immer Kuchen mitbringt. Schwarzwälder Kirsch. Den mag sie am liebsten. Aber selber kauft sie keinen.“

Er stellte die nächste Frage: „Mochte Frau Rott ihren Großneffen nicht?“

„Einmal kam er, als ich putzte. Sie hat ihm den Kuchen abgenommen und ihn angeschnauzt: ‚Wenn du wegen Geld kommst, schlag dir das aus dem Kopf!’“

Holbein staunte. „Trotzdem kam er und brachte Kuchen?“

Ryndowa strich die Haarsträhnen hinter die Ohren. „Er spekuliert auf die Erbschaft. Das liegt doch auf der Hand. Immerhin wäre sie nächsten Monat einundachtzig geworden. Er wartet darauf, dass sie – ähm! – heimgeht. Da lässt man sich manche Beleidigungen gefallen.“
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lprT013a - 2019.09.11